Andreas Abebe

«Die Gesellschaft muss von den Frauen lernen» (Teil 2)

Andreas Abebe schlug für das Gespräch einen Ort vor, an dem der kirchliche Wandel sicht- und greifbar ist: die Markuskirche. Das Gestühl ist weg. Putzequipen sind am Werk und irgendwann stellen sich Gruppen von Studierenden einer Fachhochschule ein, um unter der hohen Kuppel ihr Mittagessen zu sich zu nehmen. «Kirche neu gedacht.»

Aufgezeichnet von Katrin Bärtschi
Andreas Abebe
Andreas Abebe. (Bild: zVg)

Mein Beruf gefällt mir immer besser. Ich kann mich frei durchs Quartier bewegen, bin an kein Büro gebunden. Das Stellenprofil ist sehr breit: Neugeborene, Taufen, Familiengeschichten quer durch alle Generationen, Menschen im Altersheim, Sterbende und Beerdigungen – alle Lebensbereiche und Lebensthemen sind abgedeckt. Das zu erleben, darin zu arbeiten, ist ein Privileg. Die Leute sind mir gegenüber sehr offenherzig. Sie bringen mir viel Vertrauen entgegen, das ich zurückzugeben versuche. Das weniger Erfreuliche im Beruf ist mir eher egal. Überhaupt ist die Aufteilung in «erfreulich» und «nicht erfreulich» nicht so meine Sichtweise. Ein Tag mit fünf Sitzungen ist zwar anstrengender und doofer als einer mit drei intensiven Gesprächen, aber beides gehört eben dazu. Kinder können im Unterricht zwar mühsam sein, aber spannend ist es ja dann, Lösungen zu suchen. Was liegt an mir, was an den Kindern? Ich arbeite gern mit jüngeren Kindern. Sie schlagen noch Purzelbäume in alle Richtungen. Die zu Konfirmierenden scheinen mir eingespurter zu sein.

Hat eine Pfarrperson politische Aufgaben? Ein Dauerthema. Wir wollen vernetzt sein im Quartier, schon hier beginnt die Politik. Wir machen im Dialog Nordquartier mit. Dies führte zu einer grösse-ren Akzeptanz der Kirche. Sie und das, was sie tut, wird heute differenzierter wahrgenommen als früher. Und mit dem erneuerten Ensemble Markus soll die Kirche ja zum Wohnzimmer fürs Quartier werden – darauf freue ich mich besonders!

Mit der Arbeit im Vorstand des Dialogs setze ich gerne noch einen obendrauf. Ich bin parteipolitisch ungebunden und kann so einer meiner Lieblingstätigkeiten nachgehen: vernetzen, Brücken bauen, Verständnis schaffen, zuhören, häreluege, härelose, verschtah, wertschätzen, ohne gleicher Meinung sein zu müssen. Meiner Meinung nach eine Kernaufgabe meines Berufes und zutiefst politisch. Und natürlich auch ein Urthema meiner eigenen Geschichte: mich selber erkunden und verschiedene Teile in mir zusammenfügen. «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst» – für mich eine zentrale biblische Aussage, die einen sorgfältigen Umgang mit mir selber impliziert, dabei aber die andern nicht aus den Augen verliert.

Es ist schön, in einem Quartier zu wohnen, das schweizweit einen guten Ruf hat. Beispielsweise dank des FC Breitenrain, des national besten Quartiervereins, oder dank Renato Kaiser, der die Ecke liebevoll veräppelt und ins Land rausträgt. Man kennt viele Leute und Geschichten, kann sich identifizieren oder fühlt sich zumindest wohl. Viele spannende Leute leben da, auch die Quartier-Chöpf im Anzeiger zeigen das.

Wieder zu meinem Schaffen: Früher neigte mein Beruf dazu, den Menschen die Welt zu erklären. Mir geht glaub nichts mehr gegen den Strich, als wenn mir die Welt erklärt wird. Wenn man mir aber eine Geschichte erzählt und mir die Freiheit lässt, sie zu verstehen, wie ich will und selber weitere zu erfinden – das macht mir Spass! Und ist von Bedeutung. So will ich meinen Beruf leben! Auch ganz wichtig: das Kirchenkino. Ich habe im Kirchenschiff sicher zweihundert Filme gezeigt. Alles Geschichten! Sich darüber austauschen! Religion vielleicht als Brille, um die Dinge anzuschauen. – Und die Markuskirche drängt sich als Filmvorführort auf: leicht abschüssig, kein Mittelgang und die Bänke schon vorhanden – was willst du mehr? Und der Nordstern. Auch das eigentlich eine kirchliche Initiative. Adventsfenster, durch die das Quartier sich vorstellen kann. Seit Jahr und Tag bin ich Chorsänger. Klassisch und Weltmusik. Und schon fei chli lang mache ich Aikido. Eine japanische Kampfkunst. Körperarbeit, Atemtechnik, östlichphilosophisches Gedankengut, nahe beim Zenbuddhismus. Und befruchtend für meine theologische Arbeit. Aikido sucht Lücken und Leere – hindurchkommen, Räume auftun! Wogegen das Christentum eine lange Tradition hat im Füllen, Auffüllen. Meine nachhaltigsten Ferien waren der Monat in Japan.

Wenn erwartet wird, dass ich als Pfarrer ein Glaubensvorbild bin, muss ich enttäuschen. Gern aber zweifle ich geordnet mit den Leuten. In der Hoffnung, im eigenen Glauben wachsen zu können. These – Antithese mit dem Ziel, weiterzukommen. Das Gottesbild vom alten Mann mit dem Bart verschwindet da relativ schnell. Ich bin Pfarrer und geschieden. Eine Erfahrung, die ich nicht missen möchte. Raum, um wieder wachsen zu können, eine neue Sicht auf die Ehe und die Geschlechterverhältnisse. Auch Verlust und Schmerz – das soll, muss Platz haben und ermöglicht Neues. Ich setze mich viel mit Feminismus und toxischer Männlichkeit, Geschlechterbildern und Queerness auseinander. Warum? Es ist ständig und überall ein Thema! Ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, das ich auch in meinem Beruf antreffe. Ich leide, wenn ich toxischer Männlichkeit begegne, kann nicht begreifen, wie Mannsbilder sich verhalten. Auch Waffen zum Beispiel sind Ausdruck von toxischer Männlichkeit – ich gehörte zu den letzten Dienstverweigerern des Landes. Zu meinem Wesen gehören Eigenschaften, die eher mit weiblich konnotiert werden, ob zu Recht oder nicht sei dahingestellt. Ich sehe deren Potential und leide, wenn sie in Frage gestellt und nicht gesehen werden. Deshalb finde ich Feminismus auch viel inspirierender als das, was Männer so machen. Die heutige Gesellschaft muss von den Frauen lernen, nicht von den Männern. Ich jedenfalls habe von den Frauen mehr gelernt als von den Männern. Theologisch, soziologisch, biographisch. Auch die Thematik der Queerness sprengt viele Rollenbilder. Wir alle können daraus lernen. Das nehme ich gerne mit!

In der Marienkirche gibt es seit zwanzig Jahren einen ökumenischen Mittagstisch für Sans-Papiers. Ich bin dort seit fast zehn Jahren im Vorstand. Die Verbindung ist letztlich auch wieder biographisch, obwohl mein Vater auf andern Wegen in die Schweiz kam, aber die Themen gleichen sich.

Der Jura ist meine Herzensgegend. Herbstfarben, Blätter, grüne Matten, weisse Steine und darüber blauer Himmel.

Gut tut mir «meine» Katze. Sie ist einfach da. Ist Inbegriff von Häuslichkeit, ein ruhender Pol. Bei sich sein. Daheim sein. Wie ein Herdfeuer. Herzfeuer. Inspiration.

Ein Traum? (überlegt lange) Es heisst: Du sollst nicht träumen, sondern leben. Eine Stimme in mir sagt das auch und ich weiss nicht, ob ich ihr recht geben soll oder nicht. Es wäre glaub schlimm, wenn man nicht mehr träumen würde. Es wäre aber auch schlimm, wenn man die Träume nicht leben würde. – Nach Japan auswandern könnte ein Traum sein, aber er ist grad nicht zuvorderst.

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